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Garry Poppers – Kapitel 33 und 34

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Nach vielen Anfragen und positivem Zuspruch, hier endlich das neue Kapitel von Garry Poppers. Lange versprochen, dafür aber auch gleich im Doppelpack mit Kapitel 33 und 34.

Wie immer mit Dank an die treuen Leser, die mich wissen lassen, das sie immer noch neugierig sind, wie es weiter geht und einer Entschuldigung, daß es immer seine Zeit braucht, bis ein neues Kapitel fertig ist.

Die aktualisierte Version der Zusammenfassung “Garry Poppers, the story so far”, die noch ein mal in Erinnerung ruft was zuletzt passiert ist, kann wie immer hier nachgelesen werden.

 

Kapitel 33 – Der gut sichtbare Dritte

Wenn es im Moment an der ganzen Situation etwas positives gab, dann das alle zu beschäftigt waren um Garry wegen seines gestrigen Ausflugs eine Standpauke zu halten, ihm Vorwürfe zu machen. Ein kümmerlicher Trost.

Es hatte bis zum Abend gebraucht, ehe Garry sich wirklich ein Bild machen konnte was passiert war. Die öffentliche Spielerauswahl wurde rituell von einem Völkerballtestspiel gefolgt. Vorstellung der neuen Spieler. Normalerweise eher Routineveranstaltung, hatte sich diesmal fast die ganze Schule eingefunden. Diee Zuschauertribühnen waren voll besetzt. Jeder wollte sich ablenken, niemand alleine sein. Fumblemore hatte recht, die Schule konnte ein wenig Gemeinsamkeit gebrauchen. Ein wenig Normalität. Auch wenn die Mannschaften von Vaseline und Spiffydorm eher in Notbesetzung antraten, beider König war ausgefallen. Garry lag in der Krankenstation und Zlatko hatte niemand mehr gesehen, seit dem Vortag. Irgendwie schien es jedoch auch nicht wichtig zu sein, wer gewann. Das Spiel war ein Beweis, das St. Constantines sich nicht kleinkriegen ließ. Die Schüler feuerten beide Mannschaften nach Kräften an.

In der Pause herrschte fast eine ausgelassene Stimmung. Die permamente Anspannung der letzten Wochen entlud sich in übermütigen Albernheiten. Es gab Rangeleien, harmlose Plänkeleien. Der Schulchor sang eine A-capella-Fassung von “Go West” und selbst Professor McDoneitall schien sich für den Moment etwas zu entspannen, zu vergessen das die Spiffydorm-Mannschaft zwei Punkte zurücklag.

Zunächst hatte sich niemand gewundert, daß Paul nicht wieder kam. Keiner hatte es eilig, die Veranstaltung zu beenden. Die Stimmung war einfach zu angenehm. Man frotzelte sich an. Jens Diva versuchte die hinteren Ränge zum mitsingen der Schulhymne zu bringen, was diese jedoch eher belustigt kommentierten. Harmlose Albereien flogen umher, zusammen mit Pappbechern und T-Shirts.

Dann hatten Sie Paul in der Toilette der Umkleide gefunden. Bewusstlos. Der Arm dessen Schlagader längs geöffnet klaffte, hing über der Kloschüssel.

***

Die Evakuierung der Schule begann zwei Stunden später. Selbst Fumblemores Verbindungen konnten nach diesem Vorfall die vorläufige Schließung St.Constantines nicht mehr abwenden.

Diejenigen die Familie hatten wurden sofort in den Zug gesetzt. Einige wurden von Freunden abgeholt. Viele, die niemanden hatten, irrten mit leeren Gesichtern durch die Gänge des Internats, die Sachen gepackt. Abwartend, wie die Krisenkonferenz über ihren Verbleib entscheiden würde.  Am frühen Abend waren Reisebusse vorgefahren, begleitet von Polizeiwagen. Sie brachten die verbleibenden Schüler in Jugendherbergen in Nachbarorten.

Aktionismus. Irgendetwas musste getan werden, forderten die zuständigen Stellen.

Irgendetwas war getan worden. Ob es besser war die Schüler auseinanderzupflücken, sie aus dem Umfeld zu reißen, als sie im Internat zu behalten zählte nicht.

Das Lokalfernsehen berichtete ausführlich.

***

Es roch aseptisch. Nach grünen Fliesen und Einwegspritzen. Die Luft schmeckte metallisch. An den Wänden hingen Kinderzeichnungen. Wachsgemalte Strichmännchen unter gelb-orangen Sonnen. Alles lachte im Kontrast zu den Besuchern.

Gary hockte an die Wand gelehnt im Wartezimmer des Krankenhauses. Francis saß immer noch kreidebleich am Ende der Bank. Hermoaning war bereits auf dem Weg zurück nach Cockwarts, sie wollte Dani nicht zu lange alleine lassen. Sie hockten seit Stunden hier. Fumblemore und McDoneitall waren vor einigen Minuten von einem Arzt zum Gespräch gebeten worden.
Schließlich war es Francis, der das Wort ergriff.
»Die Kabine war abgeschlossen hat Moany gesagt.«
»Was?«
»Es macht keinen Sinn.« Francis sah auf und seine Stimme klang zum ersten Mal gefasster. Er schüttelte den Kopf. »Paul haut nicht auf sone feige Art ab. Egal was er gemacht hat.«
»Wovon redest du?«
»Ich dachte du weißt es.« Francis sah sich um, ob sie jemand belauschte. Er rückte näher an Garry heran. »Du hast ihn doch auch gehört. Heute morgen? Ich hab dich ins Bad gehen sehen.«
»Ich dachte du pennst noch…«
»Mit wem hat Paul geredet? Du hast sie doch auch gehört oder? Da war noch jemand… sie haben gestritten. Ehe er zu mir kam? Wer war der andere Junge?«
»Keine Ahnung.« Garry versuchte sich zu erinnern. »Paul stand direkt vor ihm. Ich hab ihn nicht sehen können.«
Francis schaute ihn prüfend an, entschied dann offenbar, das Garry die Wahrheit sagte.
»Ich wette es war Malejoy. Paul hat ihm eine gehauen, ja? Er wollte Paul mit irgendwas erpressen. Ich hab kaum etwas verstanden…«
»Paul hatte irgendwie Angst das du etwas erfährst, was er gemacht hat. Der andere hat versucht ihm zu drohen…«
»Und drei Stunden später versucht Paul sich umzubringen?« Francis schüttelte den Kopf. Blinzelte. »Das macht er nicht. Egal was er gemacht hat, er war mein bester- IST mein bester Freund. Paul war immer für mich da. Er hat mich wieder aufgebaut, als ich so durchhing nachdem Tom mich abblitzen ließ.« Der Junge bemerkte zu spät die Wirkung seiner Worte, als Garry aufstand und ein paar Schritte wegging.
»Sorry. Ich hab für den Moment vergessen, das du und Tom… Das er auch- Sorry, Mann.«
»Drei Wochen ist er weg. Drei verdammte Wochen.« Garry wischte sich über die Augen. »Ist doch alles Scheiße.«

Unbemerkt von beiden Jungen hatte Rektor Fumblemore das Wartezimmer betreten. 
»Ihr beiden solltet besser zurückfahren. Man wird euch in 20 Minuten abholen.«
»Ich werd bei ihm bleiben« Francis richtete sich auf. Er sah Fumblemore selbstbewusst an.
»Paul ist nicht bei Bewusstsein. Er wird dich nicht bemerken.«
»Er lebt. Und ich will ihn sehen.« Es war eine Forderung, keine Bitte. »Ich war nicht hier als Sascha… starb. Ich hab ihn allein gelassen. «
»Du wusstes doch nicht das er-«
»Ich werd Paul nicht auch alleine lassen.«
Der Rektor betrachtete den Jungen eine Sekunde, nickte dann. Francis war kein Kind mehr. Es war sein Recht seinen Freund zu sehen.
»Nun gut. Ich werde die Schwestern informieren, sie bitten dir ein weiteres Bett einzurichten. Melinda wird ebenfalls hier bleiben, falls es Veränderungen gibt.«

***

Im Auto sprach Garry kaum. Er konzentrierte sich auf die in tauenden Schneeflockenden irisierenden Lichter der Strassenlaternen, die gelb den Asphalt erleuchteten.  Fumblemore saß auf dem Vordersitz, sprach leise mit Leander van Gey, der zustimmend nickte.
Garry versuchte Fagrid zu erreichen, doch nur dessen Anrufbeantworter ging ran. Er probierte es bei Hermoaning.

»Hey…« Das Mädchen und ihre Freundin  hatten auf Garrys Rückkehr warten wollen, doch Miss Sixty bestand  darauf, daß sie für die Nacht mit evakuiert wurde. Morgen würde man ihre Tante informieren und weitersehen. Hermoaning hörte Garry stumm zu, als er berichtet wie es Paul ging.
»…Francis ist dageblieben, morgen wissen wir, ob Paul durchkommt«
»Kommst du zu uns? Wir sind gleich da..? «
»Fumblemore muss noch kurz was im Rathaus erledigen, ich werd mit van Gey zurückfahren und meinen Kram holen. Schwester Bernd wollt mich nochmal durchchecken ob ich soweit okay bin. Hab fast vergessen, das ich Grippe hab.«
»Dann beeil dich. Es ist alles so komisch. Dani und ich, wir haben einen der letzten Busse erwischt. Oben ist kaum noch einer. Cockwarts so leer zu sehen, das ist verdammt creepy…« 
»Habt ihr Fagrid nochmal gesprochen?« Garry erkannte die Silhoutte des Rathauses zur Linken auftauchen. Der Park in dem er vorgestern noch vor dem Wagen geflohen war, lag in beängstigender Nähe. Van Gey fuhr den Wagen in eine Einfahrt nahe des Rathauses.
»Hat er dich nicht angerufen?« Hermoaning klang überrascht. »Er ist noch in Frankfurt, wollte dir etwas wichtiges sagen.. ich dachte er hätte sich-?«
Fumblemore klaubte seine Aktentasche vom Rücksitz. Er schaute Garry ernsthaft an.
»Wartet nicht auf mich, ich komme sobald ich das hier erledigt habe. Und ich will keine weiteren Eskapaden Garry, ist das verstanden? «
Der Sechzehnjährige nickte.
Fumblemore wandte sich an van Gey. »Sorgen Sie dafür, daß er sich bei Bernd meldet und sofort seine Sachen packt. Ich will heute Nacht kein Kind mehr im Haus übernachten haben. Überprüfen Sie persönlich nochmal alle Zimmer!«
»Selbstverständlich Alberich. Sie haben richtig gehandelt, wir dürfen die Kinder keiner weiteren Gefahr aussetzen. Ich werde mich persönlich um Poppers kümmern.«
Der Rektor nickte beiden nocheinmal zu, ehe er die Tür schloß und die Stufen des Rathauses erklomm. Der Wagen fuhr an und brachte sie fort von dem schrecklichen Park.
»Garry bist du noch da?«
Die Stimme Hermoanings klang besorgt.
»Sorry, der Direx hat mich nur nochmal ermahnt.Wir fahren jetzt hoch. Ich versuch gleich nochmal Fagrid zu erreichen. Aber der Empfang ist hier ziemlich schlecht. Wenn er sich bei euch meldet, sagt mir Bescheid. Vielleicht hat er Tom gefunden!«
»Das hätt er uns bestimmt gesagt. Es war etwas anderes… – Garry ich muß schlußmachen, wir sind da. Ich meld mich nachher wieder!«
Blechernes Stimmengemurmel mischte sich mit dem zischen sich öffnender Bustüren. Dann legte das Mädchen auf.

Sofort tippte Garry eine SMS-Nachricht an Fagrid. Er würde nach Cockwarts fahren um zu packen, Fagrid solle ihn anrufen, sobald es Neuigkeiten gäbe. Je näher sie dem Internat kamen, desto schlechter wurde der Empfang. In der Entfernung waren die Erker und Türmchen von Cockwarts zu erkennen, nur in wenigen Fenster brannte noch Licht. Ein letzter Reisebus kam ihnen entgegen, eskortiert von einem Polizeiwagen.
Der Junge blinzelte ins Dunkel,  erkannte niemanden hinter den beschlagenen Fenstern.

Sie bogen an Fagrids Hütte ab, die verlassen an der Mauer stand, die das Internat umgab, bogen in den Weg ein,  der zum Haupttor hinaufführte. Leander van Gey schaltete die Scheibenwischer an, als die flirrenden, im Scheinwerferlicht tanzenden Schneeflocken zu dicht wurden um durch die Scheibe noch etwas zu erkennen.
Sie hatten kaum ein Wort gewechselt und Garry war froh um daß Schweigen. Er wußte nicht was er mit seinem Kosmetiklehrer hätte reden sollen. Statt dessen starrte er in die blauschwarze Dunkelheit, die nur von wenigen Laternen etwas aufgehellt wurde. Eine Gestalt schien Nahe des Brunnens zu warten, zog sich jedoch zurück, als der Wagen näher kam. Als sie vor St. Constantines hielten, dessen Einfahrt eine dreckige Pfütze war aus Busspuren, schwarzem Schnee und wässrigem Matsch, war die Gestalt verschwunden.
Garry stieg aus.

***

Die Gänge, Treppen und Hallen des Internats waren verlassen. Garry schritt einsam hinauf ins Spiffydorm-Haus, vorbei an Überresten einer überhasteten Abreise. Einer Flucht, dachte er.
Fumblemore mochte noch von einer vorrübergehenden Maßnahme reden, einem Zugeständnis an die Behörden, die ein Zeichen forderten, die endlich Ruhe haben wollten und keine weiteren Skandale, aber als Garry durch die verwaisten Räume St. Constantines ging, spürte er mit jeder Faser, daß der Weg hier endete. Fumblemore war ein geschickter und einflußreicher Mann, aber sie würden ihm nicht erlauben, seine Schule weiterzuführen. Jene Schule die so vielen  ein Dorn im Auge war. Jene Schule für diese Kinder.

Viele Zimmertüren standen offen. In den Gängen waren Fußabdrücke von Dreck und Schnee zu sehen. Einige noch nicht ganz getrocknet. Binnen weniger Stunden hatten alle ihre Sachen zusammengerafft und waren mit Bussen weggekarrt worden. Kleidungsstücke, Bücher, Comichefte und Notizen waren zurückgeblieben, übersehen worden oder aus den Taschen geglitten. Sie waren müde Erinnerung an Garrys Schulkameraden.

Als Garry sein Zimmer betrat, schaffte er es noch bis zum Bett, ehe ihm die Beine nachgaben, als er endlich das volle Ausmaß der Evakuierung realisierte. Erst unmerklich, dann immer schneller, war sein Leben aus dem Gleichgewicht geraten. Ein Kreisel, den ein kleiner Schubs ins Trudeln bringt, bis aus dem Schwanken ein Taumeln wird, ehe er endgültig zum Erliegen kommt. Der Anschlag auf Fagrids Haus. Die Schmierereien. Der Streit mit Tom. Der beinah Unfall dessen Ereignisse letztlich zu jener unglückseeligen Silvesternacht führten. Von diesem Moment, an war systematisch jede Normalität einer bizarren Anspannung gewichen, hatte sich nach und nach jede Gewissheit aufgelöst.

Francis Bruder war umgebracht worden. Tom verschwunden. Zlatko hatte ihn verraten. Paul  Selbstmord begangen.

Garry saß auf dem Bett und versuchte sein Zittern zu ignorieren. Fahrig glitt sein Blick über seine Sachen, die er eigentlich zusammenpacken musste. Toms Sachen.  Nichts ist mehr in Ordnung, auch die Mitte stimmt nicht mehr.

Das Summen seines stumm geschalteten Handys riß ihn aus den Gedanken. Er wußte nicht wie lange es schon geläutet hatte, als er den Anruf endlich annahm.
»Hallo?«
Am anderen Ende war nur ein leises Surren, ein Geräusch zu hören, daß Atmen sein konnte oder eine Störung.
»Hallo? Hallo? « Garry kam sich dämlich vor und wußte doch nichts anderes zu sagen.
Nach einigen weiteren Sekunden atmen und Stille klickte es und die Leitung war tot.
Erst jetzt schaute der Junge auf die Anruferliste.

Das Display zeigte: Letzter Anrufer: Paul Handy.

 

Kapitel 34 – Shock Treatment

Die Zeit verrann. Es schneite und die Flocken pappten am Fenster, trudelten in kleinen Tränenbächen am Fenster hinab. Garry warf planlos seine Sache in den großen Rollkoffer den er aufs Bett gewuchtet hatte. 
Es konnte nicht Paul sein. Paul lag im Krankenhaus. Im Koma. Vielleicht sogar schon… Garry erschauerte und verbat sich weiterzudenken. Es war Unsinn. Es war…

Es klopfte an der Tür und der Junge ließ einen Stapel CDs fallen die er grade in eine Seitentasche des Koffers sortierte.
»Garry? Du sollst dich beeilen.« Es war nur Benjamin Fenloh, der in der Tür stand. »Wir fahren in zwanzig Minuten!«
Der schmächtige Junge trug einen überfüllten Chiemsee-Rucksack über einer Schulter und einen Koffer.
»Was machst du denn noch hier? Ich dachte der letzte Bus ist schon weg?«
»Schwester Bernd bat mich ihm noch etwas beim packen zu helfen. Ich helf doch ab und zu aus… und Bernd hält doch… ein Auge auf mich, seit dem Vorfall.«
Garry nickte. Bernd. Er musste sich noch von ihm durchchecken lassen, ehe er los konnte.
»Ich pack die Sachen gleich zu ende. Ich muß nochmal eben zu Bernd, ich beeil mich…«
»Aber wir wollen gleich los…« Ben wich zurück, als sich Garry an ihm vorbeidrängte und den Gang hinunterlief.

***
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Das Stethoskop war wie ein Eiszapfen der sich gegen seine Rücken presste. Noch einmal atmete Garry mit offenen Mund ein und aus.
Bernd schien zufrieden zu sein.
»Na zumindest haben wir dich wieder unter den Lebenden.« Er schaute auf das Ohrthermometer, welches ein leises Fiepen von sich gab, das in der Stille der verlassenen Krankenstation sehr verloren klang. »Leicht erhöht, aber kein Fieber mehr. Aber du nimmst die Tabletten noch zwei Tage, hast du verstanden?«
Der Junge zog seinen schwarzen Esprit-Sweater wieder über und nickte gehorsam. Sein Blick glitt über die leeren Betten, die ausgebleichten Trennvorhänge, die abblätternde lindgrüne Farbe der Wände die aus Geldmangel schon lange nicht gestrichen werden konnten.  Schulschwester Bernd versuchte sich in einem aufmunternden Lächeln, doch es kaschierte nur schlecht seine Trauer. Die Schließung von St. Constantine hieß auch für ihn das ein Lebensabschnitt zu Ende ging.
»Verdammt, wie schnell man doch alles zusammengepackt hat. Alles verlassen. Ich hab die Schule noch nie so erlebt. Nichtmal in den Ferien.« Bernd schaute sich nochmal um., starrte in den Gang vor der Krankenstation. »Es waren immer Schüler hier.«
»Ben ist noch hier…«
»Ich weiß. Er hat mir geholfen vorhin…«
»Wie geht es ihm? Er wirkte… irgendwie verstört vorhin?«
»Was erwartest du? Er hat niemanden. Diese üble Geschichte mit Rape, wer weiß wie lange das schon ging. Dann stirbt sein einziger Freund, den er hier hatte…«
Garry überlegte eine Sekunde.
»Sascha? Er war Bennies Freund?«
Bernd begann langsam seine übriggeblieben Sachen einzusortieren. »Fenloh hing seit ner Weile immer mit Sascha herum. Die beiden verstanden sich gut, daher kannte ich den Kleinen überhaupt nur. Er kam oft mit, wenn Sascha seine Medizin abgeholt hat… Seit seinem Tod hat Bennie niemand mehr. Manche Leute haben wirklich nur Pech. Ich hab ihn versucht ihn etwas abzulenken, beschäftigt zu halten nachdem er aus dem Krankenhaus zurück war. Er schien ganz froh zu sein… das er eine Aufgabe hatte. Er sich doch wieder ins Schulleben einfindet.«
Bernd stellte ein paar Ampullen zurück in den Arzneischrank und schloß ihn ab.
»Aber damit wird es ja jetzt wohl nichts mehr.«  
»Es hätte nicht so enden sollen.« Garry ließ sich vom Behandlungstisch gleiten, zerriss dabei die Papierauflage die hinter ihm zu Boden glitt.
»Es ist nicht das Ende. Du wirst sehen Fumblemore fällt etwas ein. Ihm ist noch immer etwas eingefallen.«
»Es hat zwei Tote gegeben, einen Mißbrauchsskandal… Fumblemore-«
»Paul ist nicht tot! Garry!«
Natürlich. Paul war nicht tot, er lag im Koma.  
»Sorry. Ich wollte nicht sagen, daß er- Ich wollte nur-« Garry zuckte die Schultern. »Es ist alles so hoffnungslos.«
»Garry, red nicht so. Wir werden kämpfen, gib du jetzt nicht auf. Paul würde das nicht wollen.« Der Mann packte langsam seine Sachen zusammen. Er wischte noch einmal mit einem Desinfektionstuch über seine Ablage und schaute prüfend auf seine Krankenstation. Dann nahm er seine Tasche und ging in RIchtung Tür. »Fumblemore würde nicht wollen das du so redest. Und Tom auch nicht…«
Er schaltete das Licht aus. Seine Silhoutte zeichnete sich im Türrahmen ab.
»Komm, hol dein Zeug. Ihr wollt bald fahren.«
Garry beeilte sich den dunklen Raum zu verlassen.

   

***

Kurz darauf hörte er den Motor von Bernds Skoda aufheulen, der deutlich seinen Unmut über die Kälte zum Ausdruck brachte. Der Junge ging langsam zurück in den Spiffydormtrakt. Vorbei am Speisesaal mit seinen hochgestellten Stühlen, die im Halbdunkeln wie Skelettformationen aussahen. Wie die Rippenbögen einer Riesenschlange, die sich hier hingelegt hatte um ihren Frieden zu finden. Vorbei am Eingang zum Lehrerspeisesaal. Dem langen Weg der zu den Sporthallen und Umkleiden führte. Den Toiletten in denen sie Paul gefunden hatten.

Erstmals fiel Garry auf wie sehr die Haupttreppe quietschte, wenn man sie hinaufging. Abseits vom geschäftigen Treiben der Schule, jetzt da nur noch wenige Menschen im Gebäude waren hallte jedes Geräusch doppelt laut.
Wieder kehrten Garrys Gedanken zurück zu dem seltsamen Anruf, der ihn vorhin erreichte. Paul Handy. Es machte keinen Sinn. Langsam bog der Junge um die Ecke zum Flur der ihn zu Spiffydorm führen würde. Unbewusst hatte er sein Mobiltelefon herausgeholt und betrachtete die Liste seiner Anrufe.
Paul Handy.
Der Gemeinschaftsraum lag vor ihm. Ebenfalls verlassen. Ein paar leere Flaschen standen auf dem Tisch. Garry schaute in die Flure die zu den Zimmer führten, zu seinem und Toms Raum.
Paul Handy. Garry starrte wieder auf das Display seines Nokia. Die Beleuchtung des Handy verlosch und er drückte eine Taste um sie zu reaktivieren. Drückte einmal zuviel. Denn schon wählte das Gerät Pauls Nummer.

Garrys Finger schwebte schon über dem Auflegen Button. Er wollt enicht das jemand abnahm. Egal welche Erklärung es geben mochte, er konnte es jetzt nicht ertragen, wenn am anderen Ende tatsächlich jemand abnehmen sollten.
Nicht heute. Nicht hier im menschenleeren Internat, während in der Dunkelheit um die Mauern ein Schneesturm heraufzog.
Es tutete.
Garry wollte auflegen.

Es tutete.

Es klingelte.

Es klingelte. Garry erkannte Pauls Klingelton. Sein Lieblingslied. House of the rising sun. Und es klingelte hier. Der Junge lauschte und ging dabei vorsichtig in die Richtung aus der die Melodie zu ihm drang. Bald stand er vor seinem Zimmer, vor dem ein Chiemsee-Rucksack lag.

“…and it had been the ruining of many a poor boys….” schnarrten Eric Burdons Stimme durch den Stoff. Garry stand erstarrt vor seiner Zimmertür. Paul Handy, verkündete sein Handy. Er drückte auf Auflegen und kniete sich hin. Wie auf Autopilot öffnete er den Rucksack und erkannte zwischen Kleidung, einem Ipod, Büchern und DVD-Roms das schwache Glimmen eines Displays. Er angelte ein K700 hervor. Kein Zweifel, es war Pauls.
Ein Geräusch ließ den Sechzehnjährigen aufschauen. Der Besitzer des Rucksacks war unbemerkt hinter ihm aus Garrys Zimmer gekommen.
»Bennie? Wieso hast du- Was machst du in meinem Zi-?«
600KiloVolt verhinderten mit hässlich knatterndem Geräusch das Garry den Satz beenden konnte. Er verlor die Kontrolle über seine Muskeln und krümmte sich schmerzgepeinigt auf dem abtretenen Teppich zusammen.
Über sich gebeugt erkannte er durch tränende Augen Ben der sich mit dem Elektroschocker zu ihm runterbeugte.
»Recht so, Sir?« Ben drückte die Elektroden des Geräts neuerlich schmerzhaft gegen den Arm des Sechzehnjährigen und betrachtete interessiert wie Garry gepeinigt aufheulte. Sein rechter Arm war völlig taub. Kribbelte wie eingeschlafen, während sein Herz im Schweinsgallop jeden dritten Schlag auszulassen schien.
»Ben was-« Garry  versuchte wegzukriechen, doch der andere Junge drückte ihn mit einem Fuß zu Boden. Er schwenkte den Buzzer langsam vor Garrys Gesicht. Lichtbögen sprangen zwischen den Elektroden und britzelten bösartig. Benjamin Fenloh lächelte.
»Alles okay so, Sir? Sir Poppers?« der Junge riß Garrys Sweater hoch und jagte ihm eine weitere Ladung in den Körper. Garry zuckte unkontrolliert als der Strom seine Muskeln kontraktierte. Ben verlor für einen Moment das Gleichgewicht.
Garry nutzte die Chance und rammte seinen Fuß in den Magen des Vierzehnjährigen. Ben ging zu Boden, nach Luft japsend, er tastete nach dem Buzzer der ihm entglitten war und einige Zentimeter neben dem Rucksack lag.
Garry blieb keine Zeit sich zu berappeln. Er robbte sich nur mit den Beinen und seinem linken Arm vorwärts, als ihn auch schon Bens Hand erfasste und an den Haaren zurückzog. Garry jaulte auf, er riß einen Arm zurück der den Jungen an der Schläfe erwischte. Beide versuchten den Buzzer zu erreichen. Benjamin hatte ihn fast erreicht. Schon umfassten seine Finger die Spitze…

…als Garry den Taster betätigte und der Strom durch Bennies Hand in seinen Körper schlug. Der kleinere Junge zuckte wie eine Lumpenpuppe an Spielfäden. Garry umfasst den Buzzer mit seiner noch funtionsfähigen linken Hand und verpasste dem Jungen einen weiteren Schlag, der diesen reglos und schwer atmend liegen ließ. 

Ächzend stützte Garry sich auf, bis es ihm gelang sich an die Wand zu lehnen. Nur langsam kehrte das Gefühl in seine Extremitäten zurück. Er versuchte zu realisieren was überhaupt los war. Aus tränenden Augen starrte ihn Benjamin Fenloh hasserfüllt an.

»Ben… warum…? « Noch unsicher versuchte er aufzustehen, stützte sich an der Wand ab. Sein Blick fiel erneut auf Pauls Handy, welches ihm durch die Stromattacke entglitten war. Ben? Benjamin Fenloh, der Junge für den er sich eingesetzt hatte, der von Rape mißbraucht wurde, der Junge für den er bei Zlatko um einen Gefallen gebettelt hatte? Wieso sollte Ben ihn angreifen, wieso…

Und Garry dachte an Francis Stimme vorhin im Hospital. “Mit wem hat Paul geredet? Wer war der andere Junge? ” Er dachte an Zlatkos Worte bei ihrem letzten Treffen: “..frag dich mal, warum Francis Ben angesprochen hat vorhin“. Was hatte Francis bei seinem Zusammenbruch im Speisesaal  Ben gefragt?

Hat er noch was gesagt…? Benny!”

Hat er noch was gesagt? Sascha war gestorben und Francis war nicht bei ihm gewesen.

“Hat er noch was gesagt…? Benny!”

Ben war im Krankhaus gewesen vor Saschas Tod. In den chaotischen Tagen nach Rapes Abgang und der ganzen unappetitlichen Geschichte. Ben war im Krankenhaus untersucht worden. Er musste Sascha noch gesehen haben, ehe er starb.
Er war einer der letzten die ihn sahen. Er war ein Freund, er würde ihn sicher besucht haben. Grade jetzt, da Sascha sich zu erholen schien und wieder zu Bewusstsein kam. Bennie.
Nein. Das war absurd. Nicht Bennie.

Garry starrte auf den Elektrobuzzer in seiner Hand. Er sah zu dem Jungen hinunter der sich grade wieder aufsetzte. In seinen Augen spiegelten sich wütende Tränen. Seine übliche Zurückhaltung, seine gedämpfte Stimme, seine Körperhaltung die immer suggerierte das er jede Sekunde in sich selbst zusammenfallen könnte, war einer zornigen Stärke gewichen. Bennie starrte Garry an.
»Na was ist Poppers? Überrascht?«
Garry sah ihn stumm an. Noch immer war sein rechter Arm taub, schmerzte sein Leib von den Stromschlägen, bumperte sein Herz im Doppeltakt. Er schaute zwischen dem Jungen und dem K700-Handy hin und her.
»Was hast du mit Paul gemacht? «
»Was denkst? Sir?« Benjamin leckte sich langsam über die Lippen. Er blutete dort wo ihn Garrys Arm erwischte hatte.
»Du warst das. Du hast Paul gedroht! Du hast ihn..«
»Jetzt krieg dich ein, Poppers. Paul wußte sehr gut was er gemacht hat. Er brauchte nur etwas Motivation um sich zu verabschieden.« Benjamin schob sich langsam an der Wand hoch, seine Augen flackerten zwischen Garry und dem Buzzer hin und her. »Aber du weißt ja, das Paul den Stimmungschwankern nie abgeneigt war. Ich hab ihm lediglich etwas stärkere verabreicht. Einer der Vorteile, wenn die liebe Krankenschwester einem vertraut.«
»Bernd hätte dir nie-«
»Bernd brauchte mir nichts geben. Ich weiß wo er seien Sachen aufbewahrt. Und wer achtet schon drauf, wenn der arme traumatisierte Junge den lieben Francis besuchen kommt und dabei ein paar Pillen mitnimmt. Falls es dich beruhigt, Paul hat nichts gespürt…«
»Du hast ihn… « Wieder schoben sich die Bilder in Garrys Kopf. Paul der blutverschmiert auf einer Trage hereingebracht wird, die verstörten Blicke seiner Mitschüler. Bernd der panisch nach dem Krankenwagen ruft. »Francis wird dich umbringen.«
»Francis? Der arme kleine Francis. Ich könnte ihm so einiges über seinen Paul erzählen… Wusstest du das er Sascha in der Silvesternacht aus dem Haus gelockt hat?«
Garrys Hand verkrampfte sich um den Elektroschocker.
»Paul ist Francis bester Freund, er hätte nie etwas getan..!«
»Er hat, Poppers. Er hat. Weißt du nicht, das er es war, der Francis und Tom damals zusammenbrachte nach eurem Krach? Warum glaubst du hat er das gemacht?«
»Paul hat was?«
»Er wollte Tom aus dem Weg haben. Damit er dich ganz für sich haben kann…Was lag da näher als ihn mit Francis zu verkuppeln. Hat nur leider nicht ganz geklappt.«
Tom. Garry wurde wieder daran erinnert, wie lange sein Freund nun schon verschwunden war. Und an ihren Streit an Silvester, als Tom ihm seine gesamte Ignoranz um die Ohren schlug. Ob er nicht mitbekommen hätte, das Paul ihn abaggerte. Garry hatte es nicht kapiert. Ausgeblendet. Paul war nur ein Freund gewesen. Der Spielmacher beim Völkerball. Sicher er hatte seine Probleme mit Tom gehabt, aber er war doch nicht in Garry verknallt. Er war-
»Was hat das alles mit Sascha zu tun?«
Ben schwieg.
Garry versuchte zögerlich seine recht Hand wieder zu bewegen. Nur langsam verschwand das Ameisenkribbeln, kehrte das Gefühl zurück. Er deutete mit dem Buzzer auf Benjamin.
»Du hast Sascha rausgelockt. Er war dein Freund…du hast ihn an Silvester…«
Benjamin lächelte und folgte mit den Augen den Metallspitzen des Buzzers.
»Ich? Erinnerst du dich nicht mehr? Ich stolperte doch ganz zufällig in das Zimmer in dem du eingepennt warst… «
Die Schemen der Silvesternacht trieben vor Garrys geistigem Auge. Er erinnerte sich an das fremde Zimmer. An einen anderen, völlig verängstigten Benjamin Fennloh, der sich zitternd neben ihn gelegt hatte und das Schlimmste zu erwarten schien.
»Dein Zimmer… Es war dein Zimmer.«
»Blödsinn. Ich bin dir gefolgt Poppers. Erinnerst du dich? Du hast im Waschraum gekotzt und mich angeschrieen. Ich bin dir nur gefolgt… oh du warst ein echter Gentleman, als ich meine  mißbrauchtes Hascherlnummer gespielt habe. So mitfühlend.«
»Das war alles nur Show? Tom hatte Recht… Du hast mich…«
»Das geht dich nen Dreck an. Du wolltest dich doch eh nur besser fühlen. Garry der Held. Kümmert sich um den armen mißbrauchten Jungen. Was weißt du schon davon wie das ist? War doch ne klasse Ablenkung von deinem Stress mit Tom. Ich war echt gerührt, das du sogar Zlatko bekniet hast mir zu helfen… «
»Was ist mit Sascha? Wenn du Sascha in der Nacht nicht rausgelockt hast…?«
»Frag Paul. Oh, das geht wohl schlecht, derzeit. Paul schuldete uns noch etwas… einen Gefallen…«
»Ihr habt ihn erpresst damit er Sascha in eine Falle lockt?«
Garry ging einen weiteren Schritt auf Benjamin zu. Der Junge behielt ihn im Auge und massierte abwesend seinen Unterarm. Nachwirkungen des Elektroschocks.
»Paul dachte es wäre nur ein Scherz… Er dachte ich wollte den Kleinen überraschen. Er hat ihn einfach dort auf dem Sportplatz stehen lassen. Nur das ich nicht kam. Noch nicht… «
Die Augen Bennies wurden für eine Sekunde unstet, er schüttelte unmerklich den Kopf.
»Naja….  Paul war es auch der uns sagte, wo du dich mit Zlatko triffst.«
»Wenn er nicht gewsen wäre, wäre ich in dem See ertrunken! Er hat mich rausgezogen!« Garry stieß den kleineren Jungen gegen die Wand. Er stellte sich vor ihn.
 »Hast du dich nicht gewundert, warum er plötzlich dort am auftauchte? Sehr dumm von ihm sich einzumischen. Die Leute hängen einfach zu sehr an dir Poppers.«
»Deswegen? Du hast ihn… weil er mir geholfen hat?«
»Weil er lästig wurde. Genau wie Sascha. Und du. Und Tom.«

Als Garry sich wieder im Griff hatte, kauerte Benjamin in einer Ecke des Flurs und blutete aus Nase und Mund. An Garrys Handknöcheln klebte Blut. Tauber Schmerz kribbelte in der Faust, stach bis ins Handgelenk hinein. Benjamin heulte stumm und starrte ihn trotzig an.
»Wo ist Tom? Was hast du mit Tom gemacht?«
»Glaubst du das macht mir was? Glaubst du kannst mir wehtun? Alles was du kannst, hab ich schon durch. Na komm schon, Poppers.« Ben senkte langsam die Arme mit denen er sich Garrys Schlägen erwehrt hatte. Er zog Rotz hoch und spuckte ihn gegen Garrys Hose.
Zwei weitere Schläge rissen seinen Kopf nach links und rechts. Garry packte ihn am Hals und zerrte ihn hoch.
»Wo ist Tom?«
»Fick dich, Sir!«

Garry holt zu einem weiteren Schlag aus, als sein Hand von hinten gepackt und auf den Rücken gedreht wurde. Der Elektroschocker wurd mit Gewalt seinem Griff entrissen. Gleich darauf ließen ihn Stöße aus dem Buzzer erneut zu Boden sinken.

Benjamin sah auf.

»Na endlich, verdammt! Wo zum Teufel bist du gewesen??«


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